Wer macht in Deutschland eigentlich Meinung? Und wer hat damit Macht und wer hat keine? Über Parität und Repräsentanz wird in Politik und Gesellschaft seit vielen Jahren intensiv diskutiert. Wie sieht es in der Medienlandschaft aus? Wir haben nachgezählt. Als interdisziplinäres Team aus Journalistinnen, Aktivistinnen, Entwicklerinnen und Forscherinnen haben wir die größten Medienhäuser in Deutschland in den Blick genommen.
Wir haben uns gefragt: Wer sitzt in den Redaktionen und schreibt für die Medien dieses Landes? Wie divers ist der Journalismus – und welche Lücken gibt es, was die Vielfalt der Berichtenden anbelangt? Wir wollten herausfinden, wie divers die Redaktionen dieses Landes sind, denn: Wer schreibt, hat Macht und Einfluss. Wer schreibt, beeinflusst damit den politischen und gesellschaftlichen Diskurs. Wer schreibt, gestaltet den Raum mit, in dem wir über Zukunft nachdenken.
Tweets wie dieser von der Journalistin Julia Stein haben unser Interesse an dem Thema weiter befeuert.
Für unsere Recherche haben wir in drei Stichproben knapp 15.000 Artikel aus den Jahren 2021, 2022 und 2023 ausgewertet. Das Ergebnis: 20% aller analysierten Artikel haben eine weibliche Autorin, 52% einen männlichen Autor.
Die Analyse über alle Medien hinweg zeigt: Zusammengenommen schreiben deutlich mehr Männer als Frauen. Außer bei der ZEIT war in keinem Medium der Anteil der Frauen und Männer, die als Autor*innen publizierten, ausgeglichen.
Dazu im starken Kontrast die BILD-Zeitung: Verschwindend geringe 14% aller analysierten Artikel beim Online-Angebot der BILD wurden von Frauen verfasst.
Obwohl an der Spitze der taz drei Frauen stehen, schreiben bei der taz weit über die Hälfte der Artikel Männer (58%). Nur ein gutes Viertel, knapp 28% aller ausgewerteten Artikel sind von Frauen.
Auch das Mittelfeld steht nicht gut da. Bei der SZ, FAZ und SPON machen weibliche Autorinnen nur 19% - 23% der Autor*innenschaft aus. In anderen Worten: Nur jede vierte bis fünfte Autor*in ist eine Frau!
Wichtig zu verstehen: Bild.de und Spiegel.de (SPON) sind unter den Top 5 der reichweitenstärksten Nachrichtenseiten in Deutschland. Ihre Artikel werden millionenfach aufgerufen und gelesen.
Was hat es mit den grauen Balken auf sich?
Viele Artikel konnten auch trotz intensiver manueller Auswertung von uns nicht nach Geschlecht zugeordnet werden (10% bis 28% aller ausgewerteten Artikel pro Medium). Dies hat mehrere Gründe: Entweder wurde ausschließlich Agenturmaterial verwendet (Nachrichtenagenturen verwenden lediglich Kürzel wie dpa oder afp und nennen keine Namen), die Autor*innen-Kürzel waren nicht auswertbar oder es stand schlicht als Verfasser “die Redaktion”.
Selbst wenn alle Artikel aus den grauen Balken von Frauen stammten, dann würden Frauen bei der taz, SZ, FAZ, SPON und BILD-Zeitung immer noch deutlich an der 50%-Hürde scheitern.
Ein Blick auf die medienübergreifenden Ressorts verrät: Der Trend setzt sich fort, in keinem Ressort war der Anteil der Frauen und Männer, die als Autor*innen publizierten, ausgeglichen. Bei allen Medien schreiben in den untersuchten Ressorts mehr Journalisten als Journalistinnen.
Im Politikressort der ZEIT konnten wir beispielsweise mehr Artikel von Frauen als von Männern identifizieren: 252 zu 185 Artikel. In vielen Ressorts der Zeit herrscht zudem ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis. In den Ressorts aller anderen recherchierten Medien sind die Verhältnisse männlich manifestiert.
Weibliche Perspektiven fehlen auch bei Themen wie Geld, Handel und Sanktionen: In der Wirtschaftsredaktion der FAZ wurden zum Beispiel 309 Artikel von Männern und 76 von Frauen publiziert. Über alle Medien hinweg sind nur 17% aller Wirtschaftsartikel von Frauen geschrieben worden.
Die Sportberichterstattung der von uns recherchierten Medien ist ausgewiesen männlich verzerrt. Nur verschwindend geringe 6% aller Artikel aus dem Sport sind von Frauen verfasst (158 von 2641 Artikel). Einige sehr sichtbare Sportjournalistinnen in Deutschland können über diese Zahlen nicht hinwegtäuschen.
Objektivität braucht Vielfalt
Diese Recherche soll Aufruf und gleichzeitig Appell sein. Ein Aufruf für mehr Vielfalt in den Redaktionen.
Eine demokratische Gesellschaft vertritt den Anspruch, allen Menschen zu ermöglichen, ihre Perspektiven miteinfließen lassen zu können. Jeder Mensch und damit auch jeder Journalist und jede Journalistin trägt die eigene Geschichte und die eigenen Erfahrungen mit in Recherchen. In Redaktionen, in denen es an vielfältigen Perspektiven auf Themen mangelt, wird über Gesellschaft nie in ihrer ganzen Komplexität differenziert berichten werden können. An den Journalismus in seiner Funktion als vierte Gewalt werden hohe Ansprüche gestellt.
Ob Herkunft, Kultur- und Religionszugehörigkeit, Behinderung oder Gender – uns ist bewusst, Vielfalt hat viele Dimensionen. Aufgrund der von außen verfügbaren Daten konnten wir in unserer Recherche nur die Geschlechterdimensionen weiblich/männlich untersuchen. Die Tatsache, dass es aber bereits auf dieser Ebene eine eklatante Schieflage gibt, lässt für die weiteren Vielfaltsparameter nichts Gutes verheißen. Mehr dazu in unseren Reflexionen. Eine Recherche der Neuen Deutschen Medienmacher*innen aus 2020 zeigt, dass 94% der Chefredakteur*innen der reichweitenstärksten Medien Deutsche ohne Migrationshintergrund sind. Mangelnde Repräsentanz läuft Gefahr, Missstände wie Rassismus, Sexismus und Klassismus sowie strukturelle Missstände weiter zu zementieren.
Damit wir unsere Demokratie und unser Mediensystem stärken, müssen wir besser werden. Journalistische Perspektivvielfalt stärkt Objektivität, Themenvielfalt und die Handlungsfähigkeit von Redaktionen, über systematische Missstände berichten zu können. Auch müssen sich Redaktionen kontinuierlich überprüfen, ob ihre journalistischen Produkte weiterhin funktional anschlussfähig sind an ihre Publika.
Fazit
Es genügt im Jahr 2023 in Deutschland nicht mehr, einmal im Jahr am Weltfrauentag vage Absichtserklärungen abzugeben, dass man mehr Vielfalt in den Redaktionen anstrebt, aber dann den Rest des Jahres über zu wenig dafür zu tun.
Ein erster Schritt in Richtung mehr Diversität sind Daten dazu, wie es um die Vielfalt der Medienschaffenden in den Redaktionen bestellt ist, sowie das Sichtbarmachen der Ungleichheiten und Missstände. Mit Hilfe von ihnen kann die Diskussionen um Repräsentation besser geführt werden. Ohne Zahlen lässt sich nicht nachvollziehen, ob Fortschritte erreicht wurden. Den Analysen müssen konkrete Maßnahmen folgen. Die Maßnahmen starten bei einer geschlechtergerechten Bezahlung und Einstellung und einer Arbeitskultur, die lernfähig, selbstkritisch und fehlertolerant ist; Und dem Bewusstsein dafür, dass das Einbringen von marginalisierten Perspektiven kein Luxusprojekt ist: Sondern ein fundamentaler Bestandteil für kritischen Journalismus.
Was ihr tun könnt
- Schreibt die Medien eurer Wahl – zum Beispiel euer Abonnement – an und fragt nach.
- Prüft auch selbst eure Biases - lest ihr Beiträge von Frauen wie von Männern gleichermaßen?
- Teilt diesen Artikel in euren Netzwerken. Social Media Assets könnt ihr hier downloaden.
Mit diesem Artikel fordern wir Medienhäuser, Zeitungen und Newsrooms dazu auf, diese Daten (wie schon mal in einer ähnlichen Auswertung im SPIEGEL, der die Repräsentation von Frauen und Männern in eigenen Artikeln untersucht hat) proaktiv zu veröffentlichen, sich mit Diversität in der eigenen Berichterstattung auseinanderzusetzen, diverse Stimmen zu fördern und zu befördern sowie sich kontinuierlich daran messen zu lassen.
Reflexion und mögliche nächste Schritte
Zu Beginn war unser Ziel, mehrere Dimensionen von Vielfalt abzubilden. Viele dieser Daten werden aber – aus guten Gründen – von den Redaktionen und Arbeitgeber*innen nicht erhoben (weil sie zu privat sind, weil es Missbrauchspotenzial gibt, weil sich das Risiko der Diskriminierung erhöht etc). Aufgrund der Datenlage mussten wir uns in unserer Analyse auf eine binäre Dimension von Gender beschränken. Uns ist bewusst, dass Gender nicht binär ist. Es existiert eine Vielzahl von Selbstbezeichnungen und Geschlechtsidentitäten, die über das binäre “männlich” und “weiblich” hinausgehen. Die Pronomen der Autor*innen werden auf den Seiten der Zeitungen jedoch nicht angegeben.
Nächste Schritte: In einem weiteren Forschungsprojekt könnte die Zeitspanne der Auswertung erweitert werden, zum Beispiel auf insgesamt fünf Jahre. Wir sind weiterhin davon überzeugt, dass es breite, aggregierte Vielfaltsdaten aus deutschen Redaktionen braucht und sehen hier Potenzial für eine weitere Analyse.
Reaktionen der Medien
Wir haben alle analysierten Medien um eine Stellungnahme gebeten entlang dieser beiden Fragen:
- Ist Ihnen diese Verteilung der männlichen und weiblichen Autorinnen in Ihren Publikationen bekannt?
- Wie fördern Sie bei sich Vielfalt und Diversität in den Redaktionen?
Hier sind die Antworten:
Von der Vize-Chefredakteurin der taz:
Ist Ihnen diese Verteilung der männlichen und weiblichen Autorinnen in Ihren Publikationen bekannt?
Nein, deshalb sind wir sehr dankbar für Ihre Auswertung unserer Artikel.
Wie fördern Sie bei der taz Vielfalt und Diversität in den Redaktionen?
In unserem Redaktionsstatut ist eine Frauenquote von 50 Prozent verankert. An diese ist jedes Ressort gebunden. Als Chefinnenredaktion setzen wir diese auch auf Leitungsebene um: 57,7 Prozent aller Ressortleiter*innen in der taz sind aktuell weiblich. Einige Ressorts haben sich Autor*innenquoten als Ziel gesetzt. So macht es sich unser Newsressort zur Aufgabe, das Abendprogramm auf unserer Webseite immer paritätisch zu besetzen und unser Meinungsressort, die täglichen Kommentare zu quotieren.
Wir bieten Schulungen im Kommentarschreiben an, um die Quote zu erhöhen. Wir bieten auch Coaching für Personen auf Leitungsebene an, mit denen wir gerade diejenigen ermutigen wollen, eine Leitung anzunehmen, die aufgrund der eigenen Biografie stärker an sich zweifeln. Mit dem Volontariat der Panter Stiftung holen wir jedes Jahr Menschen in die Redaktion, die sonst unterrepräsentiert sind. Wir bieten mithilfe der Panter Stiftung Praktika für Menschen aus nicht-akademischen Haushalten an.
Wir veröffentlichen unsere Stellenausschreibungen mit dem Hinweis auf unseren Wunsch, diverser werden zu wollen: Wir freuen uns besonders über Bewerbungen von People of Color, Menschen mit Migrationsvorder- oder Hintergrund, LGBT-Personen und Menschen mit Behinderung.
Von der Pressesprecherin des SPIEGEL:
Der Anteil der weiblichen Redaktionsmitglieder des SPIEGEL liegt bei 47 Prozent (Stand 31.12.2022). Zum Thema Diversität hat sich Chefredakteur Steffen Klusmann anlässlich des Weltfrauentags 2022 geäußert: „Wir haben ein Team gegründet, das sich kontinuierlich um Diversitätsthemen kümmert, Ungleichgewichte sichtbar macht und Vorschläge einbringt, wie der SPIEGEL in dieser Hinsicht besser werden kann. Dabei geht es explizit nicht nur um das Geschlecht, sondern auch um andere Aspekte wie sexuelle Orientierung, Migrationsgeschichte oder Hautfarbe.“ Den vollständigen Beitrag finden Sie hier: https://www.spiegel.de/backstage/internationaler-frauentag-2022-wir-muessen-denkmuster-durchbrechen-a-c3b1e46d-bed2-4456-b53c-253094ebf9bb
Vom Pressesprecher der BILD Zeitung:
„Wir können Ihre Daten nicht im Detail nachvollziehen. Axel Springer entwickelt derzeit in Zusammenarbeit mit Ringier ein System, um genau dieses Quorum selbst zu untersuchen und dauerhaft im Blick zu haben. BILD nimmt Frauenförderung und Repräsentanz in der Berichterstattung ernst. Deshalb sind in den vergangenen Monaten bei BILD mehrere Frauen auf Spitzenpositionen befördert worden, unter anderem gibt es eine weibliche Doppelspitze in einem der größten Ressorts bei BILD. Noch sind wir nicht da, wo wir sein sollten. Wir arbeiten mit Nachdruck daran. Danke, dass Sie uns mit Ihrer Umfrage dabei helfen.“